"Gaia ist mehr als nur ein Produkt"

E&M: Herr Koller, Enersis bietet einen digitalen Zwilling namens Gaia für die Energiewirtschaft an. Erklären Sie doch kurz das Produkt.
Koller: Gaia ist mehr als nur ein Produkt. Es ist ein ganzheitlicher Lösungsansatz, der aus drei Bausteinen besteht. Erstens einer Datenplattform, die Informationen aus unterschiedlichsten Quellen zusammenführt und verwaltet wie beispielsweise aus dem Geoinformationssystem, Abrechnungssystemen, aus Netzleitdaten und Verbrauchswerten. Zweitens entwickeln wir auf dieser Basis konkrete Anwendungen beispielsweise für die kommunale Wärmeplanung, den Erneuerbaren-Ausbau, Treibhausgasbilanzen oder Netzsimulationen. Drittens bieten wir Beratungsleistungen an, weil es nicht reicht, eine Plattform zu installieren. Die Kunden − meist Stadtwerke oder Kommunen − brauchen Unterstützung bei der Integration, Datenbeschaffung und Umsetzung.
E&M: Also ein modulares System, das sich an viele Anwendungsbereiche andocken lässt?
Koller: Genau. Gaia ist als Plattform konzipiert, auf die verschiedene Applikationen aufgesetzt werden können − auch von Drittanbietern. Wichtig war uns, dass nicht für jeden Anwendungsfall eigene Dateninseln entstehen. Die meisten Use Cases greifen ohnehin auf dieselben Grunddaten zu. Ob Netzplanung oder CO2-Bilanzierung − am Ende brauche ich immer Informationen aus GIS, EDM, Abrechnung oder Gebäudestrukturen. Warum das also nicht zentral zusammenführen?
E&M: Was bietet Gaia noch?
Koller: Durch diese zentrale Architektur erzielt das System einen deutlichen Effizienzgewinn. Datensätze müssen nicht mehrfach gepflegt werden und Synergieeffekte zwischen Anwendungen entstehen quasi automatisch. Das erleichtert etwa eine sektorübergreifende Planung − zum Beispiel, wenn Strom-, Wärme- und Wasserstoffnetze gemeinsam betrachtet werden.
Bis zu 95 Prozent Übereinstimmung bei Daten
E&M: Stichwort Daten − woher stammen sie und wie steht es um ihre Qualität?
Koller: Es gibt in der Regel drei Hauptquellen: aus internen Systemen der Energieversorger, kommunale Daten und − zunehmend − Daten von externen Partnern. Die größte Herausforderung ist es, diese Daten zusammenzubringen. Die einzelnen Datensätze aus dem GIS über den Hausanschluss, aus dem Abrechnungssystem über das Objekt und aus dem 3D-Gebäudemodell passen meist nicht direkt zusammen. Daraus ergeben sich zwangsläufig Datenqualitätsprojekte. Wir identifizieren Inkonsistenzen, klären mit dem Kunden, warum Datensätze zwar im GIS, aber nicht in der Abrechnung vorhanden sind. Mithilfe von KI bringen wir diese Daten auf bis zu 95 Prozent Übereinstimmung − das ist ein echter Mehrwert.
E&M: Was bringt mir als Kommune oder Versorger diese Datenintegration im Alltag?
Koller: Zwei Beispiele: Für die kommunale Wärmeplanung muss ich wissen, welcher Heizenergiebedarf in welcher Straße oder welchem Quartier besteht. Dafür brauche ich Gebäudeinformationen und Verbrauchsdaten. Auch in den Stromverteilnetzen werden diese Daten umfassend benötigt. Von der Netzplanung über den Netzanschlussprozess bis hin zur Steuerung im Rahmen von Paragraf 14a.
E&M: Was kostet so ein digitaler Zwilling?
Koller: Das ist freilich kein Office-Tool, weder vom Aufwand noch vom Preis. Wir sprechen hier meist von mehrjährigen Digitalisierungsprojekten. Entsprechend sind sowohl der Aufwand als auch die Kosten substanziell.
E&M: Wer beauftragt Enersis in der Praxis?
Koller: Der Hauptauftraggeber ist fast immer der Energieversorger − das propagieren wir auch. Kommunen, die einen digitalen Zwilling wollen, empfehlen wir in der Regel zuerst den Gang zu ihrem Stadtwerk. Das hat nicht nur die Daten und das Know-how, sondern auch die Ressourcen, ein solches System zu betreiben. Trotzdem sehen wir Gaia als Multi-Stakeholder-Plattform: Bürgermeister, Klimaschutzmanager, Netzplaner, externe Planungsbüros − alle können die Informationen nutzen, aber die Verantwortung für das System sollte beim Versorger liegen.
E&M: Klingt nach viel IT − was für Leute arbeiten bei Enersis?
Koller: Wir sind ein Softwareunternehmen. Über 60 Prozent der Mitarbeiter sind Entwickler. Dazu kommen Physiker und Elektrotechniker. Zusätzlich haben wir Data Scientists und KI-Experten. Neue Kolleginnen und Kollegen finden wir oft über Hochschulen, etwa in Aachen, Cottbus oder an der ETH Zürich.
Umbau der Infrastruktur ideal für den Einsatz von KI
E&M: Was müssen diese Mitarbeitenden mitbringen?
Koller: Wichtig ist uns dabei, dass unsere Leute nicht nur digitale Tools beherrschen, sondern auch ein tiefes Verständnis für energiewirtschaftliche Zusammenhänge mitbringen. Die Kombination aus Domänenwissen und Technologiefähigkeit ist entscheidend, um die Anforderungen der Versorgerpraxis realitätsnah in Softwarelösungen zu übersetzen.
E&M: Thema KI. Wie setzen Sie diese bei Enersis ein?
Koller: Wir arbeiten intensiv daran. Der Umbau unserer Energieinfrastruktur mit seinen riesigen Datenmengen und einer hohen Komplexität ist für den Einsatz von künstlicher Intelligenz wie geschaffen. Ein Ingenieur allein kann heute die vielen Abhängigkeiten kaum noch überblicken − insbesondere bei dynamischen Rahmenbedingungen wie Wärmepumpenhochlauf, PV-Ausbau oder Netzverdichtung. Unsere Vision: In ein paar Jahren spreche ich mit Gaia, formuliere ein Szenario und bekomme eine fundierte Analyse der Auswirkungen auf Netz und CO2-Bilanz.
E&M: Eine solche Zukunft weckt bei vielen auch Ängste vor Kontrollverlust. Wie sehen Sie das?
Koller: Ich habe da ein eher optimistisches Bild. Wir gestalten den Einsatz von KI aktiv mit. Ein entscheidender Punkt ist die sogenannte Explainable AI. Das bedeutet, die KI muss nachvollziehbare Entscheidungsprozesse vorlegen. Es reicht nicht, dass die KI sagt: ‚Hier Fernwärme ausbauen.‘ Das System muss begründen, warum. Nur so bleibt es beherrschbar und wird akzeptiert − von Planern über die Entscheidungsträger bis hin zu Bürgern und Gesellschaft.
"Ich habe bei KI eher ein optimistisches Bild." Thomas Koller
E&M: Wohin entwickelt sich Enersis in den nächsten Jahren?
Koller: Unsere strategische Ausrichtung bleibt: Plattform, Module, Beratung. Inhaltlich liegt der Fokus auf Netzinfrastrukturen. Gas, Wasserstoff, Strom, Wärme. Dafür wollen wir ein Gesamtangebot liefern, von der Netzplanung bis zur Schaltunterstützung im Betrieb mit Partnern.
E&M: Bleiben wir beim Netzausbau und dort beim Strom: Wie sehen Sie die aktuellen regulatorischen und technologischen Entwicklungen?
Koller: Positiv, was das Problembewusstsein betrifft. Die Branche hat verstanden, dass gehandelt werden muss − vom großen Konzern bis zum kleinen Stadtwerk. Regulatorisch war die Umsetzung des Paragraf 14a ein Katalysator, sodass die Netzbetreiber nun die netzdienliche Steuerung von Verbrauchseinrichtungen und Netzanschlüssen angehen. Allerdings steht der Wandel hin zu digitalisierten Netzplanungs- und Netzbetriebsprozessen noch am Anfang. Und die Komplexitäten in der Abstimmung mit Technologien der marktdienlicher Steuerung werden auch dafür sorgen, dass es uns gemeinsam mit unseren Kunden in den nächsten Jahren nicht langweilig wird.
E&M: Zuletzt: Enersis gehört inzwischen zur Energie Baden-Württemberg. Warum der Verkauf?
Koller: Wir arbeiten schon seit Jahren eng mit der EnBW-Tochter Netze BW zusammen, die mit uns die Kommunal-Plattform entwickelt. Darüber hinaus bietet die Partnerschaft für beide Seiten Vorteile: Enersis bekommt mit der EnBW einen großen Bruder und Zugriff auf dessen Power, Kompetenz und Ökosystem. Im Gegenzug bringt Enersis eine marktführende Plattform und Erfahrung mit digitalen Energiewendezwillingen sowie KI-Fähigkeiten mit ein.
Das Interview ist im E&M Magazin 09/2025 erschienen und führte Chefredakteur Stefan Sagmeister.