„Die Integration der Daten ist die zentrale Herausforderung der Energiewende.“

Interview mit Thomas Koller, CEO, enersis europe GmbH, erschienen in der eImIw, Ausgabe 6, Dezember 2025

Seit gut einem Jahr gehört der schweizerische IT-Dienstleister Enersis zum EnBW-Konzern. Seither arbeiten beide Unternehmen eng zusammen, wenn es um das Thema digitaler Netzbetrieb geht. Das berichtete Enersis-CEO Thomas Koller im Interview mit e|m|w-Redakteur Ron-David Heinen. Zudem ging es um die Herausforderungen für Netzbetreiber, den Smart-Meter-Rollout und warum dieser eigentlich keine Voraussetzung für ein intelligentes Netz ist.

e|m|w: Herr Koller, vor rund einem Jahr wurde Enersis von der EnBW übernommen. Was hat sich seitdem verändert?
Koller: Bemerkenswerter finde ich, wie viel gleich geblieben ist. Wir arbeiten mit der EnBW eng zusammen an der Frage, wie der zukünftige digitale Netzbetreiber aussieht. Unsere Eigenständigkeit ist davon aber nicht betroffen, gleichzeitig unterstützt uns der Konzern spürbar. Wir arbeiten somit nach wie vor mit Freude und Überzeugung in der neuen Konstellation.

e|m|w: Können Sie vom EnBW-Konzern und seinem Innovationsökosystem profitieren?
Koller: Ja. Der Innovationsbereich der EnBW funktioniert in der Praxis sehr gut, auch wenn man sich unterschiedlicher Geschwindigkeiten bewusst sein muss. Wir bringen unsere Fähigkeiten ein, profitieren aber auch von den Kompetenzen des Konzerns. Dazu gehören Themen wie IT-Sicherheit, Einkauf oder Rechtsfragen. Auch strategische Diskussionen sind bei uns heute strukturierter als früher. Und last but not least ist der Austausch und die Verbindung mit den Firmen im EnBW-Cluster der zentrale Aspekt, um die komplexen Kundenanforderungen besser zu bedienen.

e|m|w: Wie gelingt Ihnen die Balance zwischen Konzernumfeld und dem Erhalt einer Start-up-Mentalität?
Koller: Wir waren zum Zeitpunkt der Übernahme kein klassisches Start-up mehr, sondern ein etabliertes Unternehmen mit 40 Mitarbeitenden, über 1.000 Kunden und marktreifen Produkten. Unsere Kunden erwarten Stabilität und Verlässlichkeit. Das können wir zusammen mit der EnBW noch besser anbieten. Gleichzeitig behalten wir unsere agile, lösungsorientierte Arbeitsweise bei. Der Markt ist gereift, die Nachfrage nach datengetriebenen Netzlösungen steigt.

e|m|w: Was ist das Kerngeschäft von Enersis?
Koller: Im Zentrum steht unser Datenintegrationsmodell: der digitale Zwilling von Energieversorgern, insbesondere von Verteilnetzbetreibern. Ziel ist es, Daten aus verschiedenen Quellen – GIS, Abrechnungssystemen, Zählerfernauslesung oder Bilanzmanagement – in einem übergreifenden Modell zusammenzuführen. Diese Systemintegration ist der entscheidende Schritt der Netzdigitalisierung. Viele Netzbetreiber haben neue Systeme eingeführt, die jeweils ihren „eigenen“ digitalen Zwilling mitbringen. Das führt zu Parallelstrukturen und mehrfach gepflegten Datensätzen. Wir setzen stattdessen auf ein konzeptionell zentrales, konsistentes Datenmodell, das unterschiedliche Systeme verbindet und verschiedene Anwendungen speist – sowohl unsere eigenen als auch externe.

e|m|w: Welche Anwendungen bietet Enersis an?
Koller: Wir haben inzwischen elf eigene Module – von der Treibhausgasbilanzierung über die kommunale Wärmeplanung und die Netzplanung bis hin zum Baustellenmanagement und der Störungsanalyse. Sie greifen alle auf die gemeinsame Datenbasis zu. Kunden können sie nutzen oder andere Tools darauf aufsetzen. Unser Ziel ist Integration, nicht Abschottung. Deshalb sind wir der einzige Anbieter, der seinen Kunden garantiert, alle Daten auch Drittsystemen vollständig zur Verfügung zu stellen.

e|m|w: Übernehmen Sie auch die Aufbereitung der Daten?
Koller: Ja. Manche Netzbetreiber lassen uns die gesamte Integration und Analyse übernehmen, andere führen die Auswertungen selbst durch und nutzen uns als technischen Integrationspartner.

e|m|w: Was sind die zentralen Mehrwerte Ihrer Lösungen?
Koller: Wir schaffen eine konsistente Datenbasis in Form eines digitalen Zwillings. Darauf können Netzbetreiber ihre Prozesse effizienter gestalten – vom Netzanschluss bis zur langfristigen Zielnetzplanung. Szenarien wie der Ausbau von PV-Anlagen oder Wärmenetzen lassen sich schnell simulieren und visualisieren. Das spart Zeit, ermöglicht datenbasierte Entscheidungen und macht den Infrastruktur-Umbau kosteneffizienter.

e|m|w: Muss ein Unternehmen bereits digitalisiert sein, um mit Ihnen zu arbeiten?
Koller: Unsere Projekte dauern meist ein bis zwei Jahre, weil sie häufig noch Digitalisierungsanteile beinhalten. Alle Unternehmen sind heute „digitalisiert“, aber das bedeutet nicht, dass die Daten strukturiert oder verwertbar vorliegen. Ein Beispiel sind Niederspannungsnetze: Die Pläne liegen digital vor, aber ohne logische Topologien oder Schaltzustände. Wir helfen, diese aufzubauen – vom Trafo bis zum Hausanschluss, inklusive Integration von Hochlaufszenarien für PV-Anlagen und Wärmepumpen.

"Das Energiesystem befindet sich in seiner größten Veränderung seit der Liberalisierung des Strommarkts."

e|m|w: Wo liegen die größten Digitalisierungshürden im Verteilnetz?
Koller: Erstens verändern sich die Kernprozesse der Netzbetreiber grundlegend. Das Energiesystem befindet sich in seiner größten Veränderung seit der Liberalisierung des Strommarkts. Zweitens fehlt oft die Integration der Systeme. Viele kleinere Betreiber haben IT-Leistungen ausgelagert oder zu wenig Fachpersonal. Die Datenqualität ist häufig unzureichend, Integrationsprojekte dauern entsprechend lange.

e|m|w: Wann werden Sie typischerweise in Projekte eingebunden?
Koller: Meist schon in der frühen Phase. Früher wurden wir vor allem wegen unserer modernen Visualisierungslösungen engagiert, heute steht konkrete Prozessdigitalisierung – etwa in der Netzplanung – im Vordergrund.

e|m|w: Hat die Branche das Ausmaß der Herausforderung erkannt?
Koller: Ja, spätestens durch den starken Anstieg von Netzanschlussgesuchen und durch neue Anforderungen aus §14a EnWG. Viele Netzbetreiber spüren den Druck und erkennen, dass ihre bestehenden Systeme an Grenzen stoßen. Der Digitalisierungsbedarf ist jetzt offensichtlich.

e|m|w: Bieten Sie auch Lösungen für Netzanschlussprozesse an?
Koller: Ja. Unsere Kunden haben uns darum gebeten. Wenn die Datenintegration steht, sind Netzanschlussberechnungen technisch einfach. Entscheidend ist die Vollständigkeit und Konsistenz der zugrunde liegenden Daten.

e|m|w: Der Smart-Meter-Rollout gilt als Indikator für digitalen Fortschritt. Ist das gerechtfertigt?
Koller: Nur bedingt. Der Rollout ist wichtig, aber für digitale Netzplanung und -betrieb keine Voraussetzung. Unsere Lösungen funktionieren unabhängig davon, ob Smart Meter installiert sind. Mit Sensorik auf Trafoseite, KI und State Estimation lassen sich viele Aufgaben schon heute lösen. Auf den fertigen Rollout zu warten, wäre angesichts der Energiewendeziele kontraproduktiv.

e|m|w: Müsste die Netzdigitalisierung nicht Hand in Hand mit dem Rollout erfolgen?
Koller: Richtig. Wir haben zusammen mit Smight Simulationsprogramme entwickelt, die zeigen, wo Netzsensorik sinnvoll installiert werden sollte. Dabei wird klar: Ohne verlässliche Netzdaten ist eine effiziente Umsetzung kaum möglich.

e|m|w: Digitalisierung gilt als Schlüssel für variable Tarife und dynamische Netzentgelte. Wie sehen Sie das?
Koller: Das Energiesystem der Zukunft wird marktdienliche und netzdienliche Ansätze kombinieren. Die Herausforderung besteht darin, sie technisch und modellsystemisch zu verbinden. Kurzfristige Echtzeitsteuerung und langfristige Netzplanung sind keine Gegensätze – auch wenn das aktuell oft so diskutiert wird.

e|m|w: Die Bundesnetzagentur will digitale Netzbetreiber fördern und hat einen Digitalisierungsindex entwickelt. Ist das der richtige Ansatz?
Koller: Der Gedanke ist richtig und wir unterstützen ihn ausdrücklich. Wichtig ist jedoch, dass dieses noch theoretische Konzept praxisnah umgesetzt wird. Anreize sollten einfacher gestaltet werden – etwa klare Regelungen für Softwareinvestitionen.

e|m|w: Die BNetzA wird oft für langsame Entscheidungen kritisiert. Können Sie das nachvollziehen?
Koller: Natürlich. Die Themen sind komplex, es geht um eine grundlegende Transformation in einem natürlichen Monopol. Die BNetzA muss die Systemsicht wahren und gleichzeitig Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Klimaziele ausbalancieren. Ich bin daher – manchmal etwas allein – eher ein Fan des Teams der BNetzA.